Interview mit Prof. Dr. Franco Rest - einen der Väter der Hospizbewegung in Deutschland

Fragen an Prof. Dr. Franco Rest

Wie beurteilen Sie heute den über mehr als 30 Jahre zurückgelegten Weg der Hospizarbeit in unserem Land?

Die Hospizbewegung in ihren vielfältigen Schattierungen hat zweifellos einen Beitrag zur Rehumanisierung der gesellschaftlichen Gegebenheiten geleistet. Die Sterbenden haben ihre zuvor verlorene Persönlichkeit zurückerhalten, der Zugriff der Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens auf die schwächsten der Schwachen ist wenigstens an einigen Stellen (ambulante Versorgung, Netzwerke) durchbrochen, Sterben und Tod sind aus der kollektiven Verdrängung wieder in die Wirklichkeiten zurückgekehrt, die unterdrückten bzw. an Spezialisten abgedrängten Riten und Symbole sind wieder in der Verfügung der Menschen, Sterbeorte sind keine Orte der Heimlichkeiten mehr, die Vollendung von Leben ist weniger ein Entsorgungsproblem mehr, sondern etwas der gelebten Individualität. Aber dieser Gewinn ist filigran und zerbrechlich, weil destruktive Tendenzen zur Durchsetzung drängen: die Medikalisierung / Medizinisierung durch den Herrschaftsanspruch des Palliativen; die damit zusammenhängende Re-Institutionalisierung  und Zurückdrängung der Kompetenzen von Laien und Ehrenamtlern; die damit wiederum zusammenhängende Professionalisierung sogar des Spirituellen; die Ökonomisierung in der Dominanz des Bezahlbaren; die Verrechtlichung durch Verfügungen, Vollmachten, Vorschriften. Zu all den Stichworten wären ausführlichere Darstellungen sicher notwendig.

 

Als die ersten Einrichtungen in der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland eröffnet wurden, gab es noch kein speziell geschultes Personal dafür. Wie war die Situation damals? Worin lagen die Pionieraufgaben in der Fort- und Weiterbildung für die verschiedenen Berufsgruppen?

Als wir vor ca. 50 Jahren erstmalig den Vorgang des Sterbens wissenschaftlich zu erfassen und dann daraus Handlungsebenen zu entwickeln suchten, gab es keine Kriterien, Items etc. Deshalb mussten wir zunächst den deskriptiven Weg (teilnehmende Beobachtungen) nehmen. Medizin und von ihr abhängig die Aus- und Fortbildung in der Pflege hatten überhaupt keinen Zugang zum Sterbenden, sondern überließen ihn sich selbst oder der Seelsorge. Erst das „schlechte Gewissen“ von Pflegenden (Angehörige und Pflegekräfte) öffnete auch die medizinischen Augen. Der Einfluss von Ethik ohne Tabubereiche sowie das gestärkte Selbstbewusstsein der Schwerkranken und ihres sozialen Umfeldes erzwangen die Entwicklung auch des beruflichen Handelns. Die „Pionieraufgaben“ bestanden zunächst in der Erarbeitung von „angewandter und praktischer Ethik“ (vgl. die Bedeutung der christlichen Impulse); daraus ergaben sich die Palliativmedizin und die entsprechende Pflege (Care); eine weitere Pionierleistung war die Einbeziehung der „natürlichen Kompetenzen“ der Schwerkranken selbst, ihres sozialen Systems und die Erweckung des „Inneren“ der beruflich Handelnden zur Entdeckung ihrer eigenen Sterblichkeit, eigenen Begrenztheit und akzeptierter Schuldhaftigkeit. Hospizeinrichtungen waren im besten Sinne Bürgerbewegungen; sie erzwangen die gelebte Verantwortung auch der beruflich Handelnden.

 

Der Ausdruck „Palliative Care“ ist international ein fester Terminus geworden, nicht zuletzt durch die als Goldstandard bewertete Definition der WHO. Wie sehen Sie das Spannungsverhältnis zwischen Palliative Care und Hospizarbeit?

Ausdrücklich bedaure ich die „Anglizismisierung“ des Medizinisch-Pflegerischen und damit die Distanzierung des Hospizlichen von den Menschen. Unsere deutsche Sprache kennt das Wort „Sorge“ (wie in Versorgung, Seelsorge, Fürsorge). Nun wird aus pflegerischer und geistlicher Sorge nur noch Palliative oder gar Spiritual Care, Advance Care Planing, Networking usw. Wir sollten uns bemühen, wieder verständlich zu kommunizieren. Vor 50 Jahren fragten wir uns beispielsweise, wie es den Ärzten gelang, bei einer „finalen“ Diagnosemitteilung zwar viel zu reden, jedoch gleichzeitig nichts zu sagen. Diese Kritik schmälert nicht die Verdienste bei der Entwicklung von Standards im Bereich des „Palliative Care“. Hospizarbeit ist die empathische, individuelle, persönliche, soziale Kehrseite der „kompetenten“ Versorgung. Palliativmedizin und Palliative Care ohne Hospizlichkeit ist der Rückfall in die überwunden geglaubte Tabuisierung und Verdrängung.

 

Giovanni Borasio, eine wichtige Stimme im Bereich der Palliativmedizin, spricht einmal von der Palliative Care als einer „stillen Revolution“. Stimmen Sie dem zu? Und welche politische Kraft hat palliative Versorgung und Hospizarbeit eigentlich?

Wenn das ein Vorwurf sein soll, würde ich dem zustimmen. Was sich im Hospizlichen und Palliativen während der letzten Jahre entwickelt hat, geschah leider überwiegend still; wir hätten tatsächlich lauter sein müssen gegenüber denen, die Tötungsheilbehandlungen (Euthanasie) und Rechtssysteme zur Durchsetzung bringen wollten. Ja, die Hospizentwicklung hätte mehr politische Kraft gebraucht. Beispielsweise sind das Sterben und der Tod für die Menschen das Fremdeste, das ihnen sicher ist. Wir hätten tatsächlich einen Beitrag zur Überwindung der Xenophobie (Fremdenangst) leisten können. Im Hospizlichen wächst auch Kraft, gegen Endlösungsphantasien = es gibt keine leidfreie Gesellschaft, gegen Lebensverlängerungen um jeden Preis (auch auf Kosten von Organgebern), für die Akzeptanz des jeweils anderen, für Toleranzen (Frustrationstoleranz, Ambiguitätstoleranz usw.). Andererseits steckt in der Stille dieser Revolution auch eine Kraft, welche zu ihren Geheimnissen gehört: Stille ist eben mehr als Sprachlosigkeit oder Schweigen oder Geräuscharmut; im „Gebetsanliegen des Papstes“ von September 2019 heißt es: Unser christlicher Glaube verdanke sich dem Wort, das aus der Stille kam; erst im Horizont der Stille entfalte das Wort seinen Klang.

 

Wenn Sie als einer der Gründer-Väter über die Relevanz von Pioniersein in der Hospizarbeit heute nachdenken. Welche Qualitäten sind notwendig, um Hospiz heute voranzubringen, denken wir etwa nur an die Förderung in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe?

Welche Qualitäten? Zunächst wäre es wichtig, gewissermaßen in das eigene Innere zu blicken: Wer bin ich, wenn ich mein Leben von hinten, also vom Sterben her betrachte? Habe ich akzeptiert, dass mein Leben tödlich endet? – Vor über 50 Jahren begannen meine Vorarbeiten für die spätere Hospizbewegung (seit 1985) in der stationären Altenhilfe, weil man uns nicht erlaubte, in Intensivstationen oder anderen klinischen Bereichen als Sozialwissenschaftler zu recherchieren. Trotzdem ist die stationäre und ambulante Altenhilfe nach wie vor ein Stiefkind des Hospizlichen und der Palliation. Die „spezialisierte“ Palliativversorgung hat weitgehend die „allgemeine“ und „integrative“ vernachlässigt. Auch weiterhin sollte gelten: Nirgendwo sollte ein Mensch besser oder schlechter sterben als anderswo. Wer daran arbeitet, sollte bei sich selbst beginnen.

 

Ihre spirituelle Verfügung begreift sich auch als eine Kritik an der klassischen Patientenverfügung. Wie schätzen sie den Auftrag der vorausschauenden Gesundheitsplanung (Advance Care Planning) ein. Ist dieses Instrument geeignet, die Defizite der Patientenverfügung zu schließen?

Selbstverständlich sind die Bemühungen im Zusammenhang mit ACP (Advance Care Planing) weitere richtige Schritte in die ebenfalls richtige Richtung. Dass sie im Vergleich zu meiner „Spirituellen Verfügung“, die besonders von medizinischer und rechtlicher Seite nur mit müdem Lächeln aufgenommen worden waren, 15 Jahre zu spät kommen, weil man erst etwas akzeptiert, wenn es aus dem Angelsächsischen zu uns gelang (wie ja bereits bei der Hospizlichkeit und bei der Palliation vorexerziert), muss die Richtigkeit nicht schmälern. Allerdings zeigt auch ACP wieder die Dominanz des Medizinisch-Pflegerischen und die Zweitrangigkeit des Psychosozialen und Spirituellen. Die „Spirituelle Verfügung“ war (wie übrigens auch der „Freundschaftsvertrag“ zwischen einem Patienten und dem außerfamiliären sozialen System) als Alternative, Ergänzung und Vorbereitung zum überwiegend negativen Ansatz der Patientenverfügungen entwickelt worden, nachdem man sich geweigert hatte, die Patientenverfügungen mit einem Beratungssystem zu verbinden. Der Tod (die Tötung) vorgeburtlichen Lebens (Schwangerschaftskonfliktberatung, § 218 StGB) war an „Beratungen“ geknüpft worden; beim Tod nachgeburtlichen Lebens scheute man den erforderlichen Aufwand. ACP soll diese Lücken tatsächlich schließen. Allerdings war bei der Spirituellen Verfügung ein anderer Denkansatz tragend: Die Patientenverfügung und folglich auch das ACP bemühen sich vor allem darum, was der Patient möglicherweise nicht (!) möchte; sie verfolgen also einen negativen Grundansatz; die Spirituelle Verfügung sucht dagegen nach der Begründung und Bemächtigung des positiven Willens. Ich komme also zu dem Schluss, dass die Defizite der Patientenverfügungen durch ACP noch keineswegs geschlossen sind.

 

Sie sagten mir einmal im Gespräch, dass Sie den Begriff der Sorge hochschätzen, er sogar den Begriff von Spiritual Care umgreifen könne. Was ist es, was Sie mit diesem schönen Wort verbinden? Ist darin auch jener Terminus eingebettet, den wir von England herkommend in jüngster Zeit immer wieder hören, nämlich dem der Compassionate Communities?

Im alten Griechenland berichtete ein Mythos vom Streit der Götter um den Besitz der Menschen nach ihrem Tode zwischen dem Göttervater Zeus, der Erde (Gäa bzw. Tellus) und der Mutter der Menschen, der Merimna, Sorge. Saturn vermittelte in diesem Streit und entschied, dass nach dem Tod Zeus den Lebensodem, den Geist, zurückerhalte, die Erde jeweils den Körper bekomme, aber solange der Mensch noch atmet, er seiner Mutter, der Sorge gehören solle. In einem Gedicht hat Johann Gottfried Herder dies geschildert und endet: „Des Schicksals Spruch ist erfüllet / Und Mensch heißt dieses Geschöpf. / Im Leben gehört es der Sorge: / Der Erd’ im Sterben und Gott.“ – Nachdem die „Sorge“ einschließlich der Fürsorge und Seelsorge durch „Care“ ersetzt wurde, muss nun die „Compassionate Community“ die mitfühlende „Gemeinschaft“ ersetzen. Bereits 1887 hatte Ferdinand Tönnies den Unterschied zwischen „Gemeinschaft“ (entsteht im Gefühl natürlicher Zusammengehörigkeit) und „Gesellschaft“ (Raum des interessengebundenen Kalküls und des zweckrationalen Handelns) zur Grundlage seiner Soziologie gemacht. Also ist die „Compassionate Community“ nichts wirklich Neues; sie dreht sich um Besorgnis (entsprechend der „Sorge“), Unterstützung, Betreuung, Lebensqualität, Zusammenarbeit der Menschen bei Lebenskrisen, insbesondere Krankheit, Tod und Trauer. In der „Gemeinschaft“ wird die institutionelle Versorgung durch so etwas wie „Sorgekultur“ (professionalisiertes und bürgerschaftliches Ehrenamt) ergänzt. Damit startet erneut eine gemeinschaftliche Besinnung hin zu so etwas wie geistig begründeter Sorge (Spiritual Care).

 

Im Garten der Akademie des Johannes-Hospizes steht eine Figur des Kairos. Sie versinnbildlicht den rechten Augenblick. Welche Bedeutung hat der Kairos in der Begleitung Sterbender und ihrer Familien und Freunde?

„Kairos“ ist jener Gott im Gegensatz zum „Chronos“, der oft mit einer Haartolle auf der Stirn und einer Glatze am Hinterkopf dargestellt wird; soll heißen: Man muss den „Kairos“, den richtigen Augenblick „beim Schopfe fassen“, wenn man seiner ansichtig wird; ist er einmal an uns vorüber geeilt, bekommen wir ihn nicht mehr zu fassen, weil er hinten keine Haare hat. Das Geleit Sterbender eröffnet den Menschen auch neue „zeitliche“ Dimensionen, bei denen nicht nur das Vergehen (chronologisch), sondern auch die Ewigkeit, der fruchtbare Augenblick (Kairos), die Gleichzeitigkeit und die Zeitlosigkeit eine Rolle spielen. Alltäglich sprechen Christen ihr Credo und damit die „Erwartung (!) der Auferstehung der Toten und das Leben (!) der zukünftigen Zeit (!)“. Vor aller Zeit gab es und nach aller Zeit wird es etwas geben, das raumlos, zeitlos und materiefrei gedacht werden müsste. Insofern dürfte es auch eine unserer Aufgaben sein, den Menschen (Patienten, Angehörigen, Freunden) ein anderes Zeitgefühl zu vermitteln bzw. vorzuleben, nämlich Raum-, Zeit- und Materielosigkeit. Die „Sterbenszeit“ verstanden als der letzte innerweltlich erlebte fruchtbare Moment könnte uns veranlassen, wenigstens manchmal dem „Kairos“ im Garten der Johannes-Akademie ein freundliches Opfer zu bringen.

 

Hospiz wird manchmal als ein Lernort des Sterbens beschrieben. Glauben Sie, dass ein „Sterben lernen“ möglich ist, eine „ars moriendi“ also, wie sie sowohl die philosophische Antike als auch später die christliche Tradition kennt?

Als Seneca schrieb „Wer Sterben gelernt hat, hat aufgehört Knecht zu sein“, oder Platon sein Lebenswerk damit zusammenfasste „Lerne Sterben“, verstand man dies nicht wie in der christlichen „ars moriendi“ oder im Sinne der „Schule des Todes“ bei Johann Amos Comenius  als rechtzeitige Säuberung des schlechten Gewissens zum Zweck eines glatteren Hinübergangs ins Jenseits ohne Hölle und Fegefeuer. Es war der weitgehend vergessene Xaver Schmid aus Schwarzenberg (1819-1883), der erstmals Sterbeerziehung als Transfigurationsprozess verstand und entsprechend der anderen Umwandlungsprozesse im Menschenleben beschrieb. Das Hineinwirken des Hospizgedankens in die Transfigurationen von vor der Geburt bis nach dem Tode könnte eine Aufgabe für die Zukunft sein, wenn dabei jedoch die Lernprozesse aus der Moribundenklinik von Aldous Huxley’s „Schöner Neuen Welt“ vermieden werden. Es geht beim Sterbenlernen nicht darum, den Tod schließlich freudig zu akzeptieren und anzunehmen, wie es zu Beginn der Hospizbewegung z.B. bei Kübler-Ross kolportiert wurde, sondern um die abschließende Persönlichkeitsentfaltung, um die Wiedergewinnung einer im Leben immer wieder gebrochenen Persönlichkeit als „Individuum“, als das Unteilbare des Menschseins.

 

Zum Abschluss: Der Philosoph Schelling sagt einmal, in der Kunst werde Unendliches im Endlichen sichtbar. Kommt Kunst ein Rettendes zu - im Leben wie im Sterben?

Das ist eine sehr offene Frage, zumal nicht gesagt ist, was denn unter „Kunst“ zu verstehen sei. Das Wort „Kunst“ wird vielfach ausschließlich aus dem „Können“ hergeleitet; aber auch das „Kennen“ im Sinne des jeweils „Erkundeten“ und des zur „Verkündigung“ Vorbereiteten sollte eine Rolle spielen. Dann, aber auch nur dann könnten tatsächlich auch die Künste im Ablauf eines Sterbens oder einer Trauer hilfreich („rettend“) werden. Ich würde mich freuen, wenn Musik, darstellende Kunst, Poesie, Tanz „kundig“ in das Sterbegeleit Eingang finden würden. Ich selbst habe (zusammen mit meiner verstorbenen Frau, die diese „Kunst“ in die Hospizarbeit eingebracht hat) der selbst geschriebenen Poesie und Lyrik das „endliche“ Feld bereitet; mit ihr fanden viele sterbende und trauernde Menschen aus dem sprachzerstörenden Erleben heraus wieder einen Zugang zu Wörtern und vor allem auch zum „Wort“. Wie heißt es doch im Buch der Weisheit (Kap. 18): „Als tiefes Schweigen das All umfing, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel herab, mitten in das dem Verderben geweihte Land.“

 

 

Bild oben: Franco Rest mit dem Geschäftsführer Ludger Prinz (li.) und Andreas Stähli (re.)

Bild unten links: Franco Rest während seines Vortrags in der Bezirksregierung in Münster anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Johannes-Hospizes

Bild unten rechts: Franco Rest während eines Pressegespräches